BGH, Beschluss vom 22. Juni 2022, Az. XII ZB 376/21

Haben Klient*innen ein „Recht auf Unterbringung“ gegen ihren natürlichen Willen?

Ist ein*e Betroffene*r, der*die keine Unterbringung wünscht, durch eine gerichtliche Entscheidung, die einen Antrag auf Unterbringung zurückweist, dennoch in seinen*ihren Rechten beeinträchtigt? Kann also in seinem*ihrem Namen durch den*die Betreuer*in Beschwerde eingelegt werden?
30.08.2021
  • Katharina Rinne
    Katharina Rinne

Mit dieser Frage hatte sich der BGH in seiner  Entscheidung vom 22. Juni 2022, Az.XII ZB 376/21 auseinanderzusetzen, hat diese bejaht und entschieden: „Der Betroffene ist auch im Fall der Ablehnung einer betreuungsgerichtlichen Unterbringungsgenehmigung in seinen Rechten beeinträchtigt, sodass der Betreuer in seinem Namen eine zulässige Beschwerde einlegen kann.“

In dem zugrundeliegenden Fall hatte die Betreuerin einen Antrag auf (weitere) Unterbringung ihres Klienten beim Amtsgericht Schöneberg gestellt. Der Klient selbst wollte keine Unterbringung. Das Amtsgericht Schöneberg wies den Antrag auf Unterbringung zurück. Gegen diese Entscheidung legte die Betreuerin Beschwerde ein.

Das LG Berlin verwarf die Beschwerde als unzulässig, da die für eine Beschwerde nach § 59 FamFG erforderliche Beeinträchtigung von Rechten des Betroffenen nicht gegeben sei; denn wenn der Betroffene -seinem natürlichen Willen gemäß- nicht (!) untergebracht werde, werde auch nicht in dessen (Freiheits-)rechte eingegriffen.

Gegen diese Entscheidung legte die Betreuerin Rechtsbeschwerde ein, über die der XII Zivilsenat des BGH zu entscheiden hatte.

Und so stellt sich die Frage: Gibt es ein Recht der Betroffenen auf Beeinträchtigung ihrer Freiheit gegen ihren Willen?

Gemäß § 59 Abs. 1 FamFG steht das Rechtsmittel der Beschwerde demjenigen zu, der durch den Beschluss in seinen Rechten beeinträchtigt ist. Gemäß § 335 Abs. 3 FamFG können Betreuer*innen im Namen der Betroffenen Beschwerde einlegen. Dies folgt aus der gemäß § 1902 BGB bestehenden Vertretungsmacht der Betreuer*innen.

Ist aber ein*e Betroffene*r in seinen Rechten nach § § 59 Abs. 1 FamFG überhaupt verletzt, wenn er nicht untergebracht wird und er eine Unterbringung -nach seinem natürlichen Willen- auch nicht möchte?

Ja, meint der BGH. Dabei stellt er darauf ab, dass das Betreuungsrecht (und damit auch Maßnahmen wie die Unterbringung) ein Institut des Erwachsenenschutzes sei, deren Anlass und Grundlage das öffentliche Interesse an der Fürsorge für den schutzbedürftigen Einzelnen ist. Es bestehe daher ein subjektives Recht des Betroffenen auf die staatliche (Schutz-) Maßnahme, sofern deren gesetzliche Voraussetzungen vorliegen. Und dieses Recht des*der Betroffenen werde verletzt, wenn die staatlichen Schutzmaßnahmen (und hierzu gehört auch die Unterbringung) nicht ergriffen würden. Die §§ 1896 ff. BGB hätten nämlich nicht nur einen in die Grundrechte eingreifenden Gehalt (wie er bei einer Unterbringung als Zwangsmaßnahme ja besonders deutlich hervortritt), sondern dienten insbesondere der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenwürde des Betroffenen, der wegen seiner Krankheit oder Behinderung nicht eigenverantwortlich entscheiden kann, sowie dem Schutz seines Lebens und seiner Gesundheit. Im Regelfall sei die Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB dementsprechend auch dadurch gekennzeichnet, dass den Betroffenen die notwendige Krankheitseinsicht fehlt und mithin allein die Unterbringung, erforderlichenfalls ergänzt durch medizinische Zwangsmaßnahmen, die Voraussetzungen dafür schaffen kann, dass die Krankheit des Betroffenen behandelt werden kann. (Senatsbeschluss vom 2. Februar 2022 XII ZB 530/21 FamRZ 2022, 726 Rn. 12 f. mwN).

Der BGH führt weiter aus: Der Zweck der betreuungsrechtlichen Vorschriften„(…)besteht neben ihrer die Eingriffsvoraussetzungen festlegenden und damit Grundrechtseingriffe beschränkenden Funktion insbesondere darin, den Anspruch des Betroffenen auf Schutz und Behandlung umzusetzen (…)“. Dass dieser Schutz „(…) nur mittels schwerwiegender Eingriffe in die Grundrechte des Betroffenen möglich ist, ändert an dem begünstigenden Charakter nichts.“

Anders ausgedrückt: Betroffene haben ein Recht auf staatliche Fürsorge, unabhängig davon, ob sie dies situativ auch wünschen oder nicht. Sie haben damit das Recht, im Beschwerdeverfahren prüfen zu lassen, ob eine gerichtliche Entscheidung diesem Anspruch auf staatliche Fürsorge gerecht wird, selbst wenn die angegriffene Entscheidung des Gerichts „in ihrem Sinne“ ausging. Da die Unterbringung Teil dieser staatlichen Fürsorge ist, gibt es (auch) einen Anspruch auf Unterbringung. Wenn diesem Anspruch durch eine gerichtliche Entscheidung nicht entsprochen wird, ist dies eine Beschwerde des*der Betroffenen im Sinne des § 59 FamFG.

Aber was ist denn mit dem Willen des*der Klient*in? Kommt dem insoweit keinerlei Bedeutung zu? Doch! Aber dieser Wille -so die weiteren Ausführungen des BGH - ist nicht im Rahmen der Frage der Zulässigkeit der Beschwerde zu prüfen (also der Frage, ob eine Beschwerde eingelegt werden kann), sondern erst im Rahmen der Begründetheit (also der Frage, ob die Beschwerde Erfolg hat).  Der entgegenstehende (natürliche) Wille der Betroffenen beseitigt also nicht -für das in ihren Namen eingelegte Rechtsmittel – die erforderliche  Beschwerde; er kommt aber erst zum Tragen, wenn die Voraussetzungen der angegriffenen Maßnahme (u.a. kein die Unterbringung ausschließender freier Wille) geprüft werden.  

Einen ähnlich gelagerten Fall hatte der BGH bereits 2020 zu entscheiden (BGH Beschluss vom 29. Juli 2020, Az. XII ZB 173/18). Dieser betraf die Frage, inwieweit einen Betroffenen die gerichtliche Entscheidung, eine Zwangsbehandlung nicht zu genehmigen, in seinen Rechten beeinträchtige.

Auch hier hatte die Vorinstanz (LG Nürnberg-Fürth) die Ansicht vertreten, dass der Betroffene nicht beschwerdeberechtigt sei, weil er durch die Ablehnung einer Zwangsbehandlung nicht in seinen Rechten beeinträchtigt sei. Denn im deutschen Recht gäbe es kein Recht des Betroffenen auf Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit gegen seinen Willen. Durch eine Ablehnung sei lediglich das Recht des Betreuers beeinträchtigt, gegen den Willen des Betroffenen zu dessen Wohl eine ärztliche Heilbehandlung unter Verletzung der körperlichen Unversehrtheit herbeizuführen. Daher stehe zwar dem Betreuer ein (eigenes) Beschwerderecht zu, nicht aber dem Betroffenen, wenn in dessen Vertretung der Betreuer Beschwerde einlege.  

Der BGH widersprach in seiner Entscheidung dieser Rechtsauffassung mit den oben dargestellten Argumenten. Ein Rechtsmittel, das eingelegt werde, um eine Zwangsmaßnahme gegen den Willen durchzusetzen, sei zulässig, da der Betroffene durch die zurückweisende Entscheidung in seinen Rechten (Anspruch auf staatliche Fürsorge) beschwert sei.

Zurück zum Ausgangsfall: Auf die erfolgreiche Rechtsbeschwerde wurde die (angegriffene) Beschwerdeentscheidung aufgehoben und zur neuen Verhandlung an das Landgericht zurückgewiesen. Sollten im Rahmen des erneut durchzuführenden Beschwerdeverfahrens die Voraussetzungen einer Unterbringung nunmehr bejaht werden, wird -auf den ersten Blick widersprüchlich- der Tenor der erfolgreichen Beschwerde sinngemäß lauten: Auf seine Beschwerde wird der Betroffene (gegen seinen Willen) untergebracht.